Montag, 14. Dezember 2009

Gebrüder Grimm - Rapunzel




Gebrüder Grimm

Rapunzel



Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatte in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab. Da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war, und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blass und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: „Was fehlt dir, liebe Frau?“ – „Ach“, antwortete sie, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege so sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: Eh du deine Frau sterben lässest holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will. In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab. Als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. „Wie kannst du es wagen“, sprach sie mit zornigem Blick, „in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen!“ – „Ach“, antwortete er, „lasst Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen. Meine Frau hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekommt.“ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: „Verhält es sich so, wie du sagst so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst; allein ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.“ Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte; nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin und rief:

          „Rapunzel, Rapunzel,
          Lass mir dein Haar herunter!“

Rapunzel hatte lange, prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.



Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er stillhielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms: aber es war keine zu finden. Er ritt heim. Doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin herankam, und hörte, wie sie hinauf rief:

          „Rapunzel, Rapunzel,
          Lass mir dein Haar herunter!“

Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. „Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.“ Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:

          „Rapunzel, Rapunzel,
          Lass mir dein Haar herunter!“

Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.
Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten. Doch der Königssohn fing an, ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wollte und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: ‚Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gotel’, und sagte „Ja“, und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: „Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann. Wenn du kommst, so bring jedes mal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten und wenn die fertig ist, so steige ich herunter, und du nimmst mich auf dein Pferd.“ Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abende zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: „Sag Sie mir doch, Frau Gotel, wie kommt es nur, Sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als den jungen Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir?“ – „Ach du gottloses Kind!“ rief die Zauberin, „was muss ich von dir hören; ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!“ In ihrem Zorn packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und, ritsch, ratsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste.
Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief:

          „Rapunzel, Rapunzel,
          Lass mir dein Haar herunter!“

so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah. „Aha“, rief sie höhnisch, „du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken!“ Der Königssohn geriet außer sich vor Schmerzen, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab. Das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Wald umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So wanderte er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Wüstenei wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und einem Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie deuchte ihm so bekannt. Da ging er darauf zu und wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen ward und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.

Ende

Mittwoch, 25. November 2009

Gebrüder Grimm - Schneewittchen




Gebrüder Grimm

Schneewittchen



Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: ‚Hätt' ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.’ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.


Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel; wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:

          „Spieglein, Spieglein an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

so antwortete der Spiegel:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“

Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte. Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön, wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte:

          „Spieglein, Spieglein an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

so antwortete er:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
          Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach: „Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.“ Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: „Ach, lieber Jäger, lass mir mein Leben; Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.“ Und weil es gar so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: „So lauf hin, du armes Kind.“ – ‚Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben’, dachte er, und doch war's ihm, als wäre ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch musste sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen.

Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein, und ward ihm so angst, dass es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wusste, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, so lange nur die Füße noch fortkonnten, bis es bald Abend werden wollte. Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, dass es nicht zu sagen ist. Da stand ein weiß gedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäbelein und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Schneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem allein alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins passte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war; und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein.



Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, dass jemand darin gesessen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach: „Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?“ Der zweite: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ Der dritte: „Wer hat von meinem Brötchen genommen?“ Der vierte: „Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?“ Der fünfte: „Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?“ Der sechste: „Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?“ Der siebente: „Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?“ Dann sah sich der erste um und sah, dass auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: „Wer hat in mein Bettchen getreten?“ Die anderen kamen gelaufen und riefen: „In meinem hat auch jemand gelegen.“ Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Schneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Schneewittchen. „Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!“ riefen sie, „was ist das Kind so schön!“, und hatten so große Freude, dass sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fort schlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.

Als es Morgen war, erwachte Schneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten: „Wie heißt du?“ – „Ich heiße Schneewittchen“, antwortete es. „Wie bist du in unser Haus gekommen?“ sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, dass seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär’ es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte. Die Zwerge sprachen: „Willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.“ – „Ja“, sagte Schneewittchen, »von Herzen gern“, und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung; morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da musste ihr Essen bereit sein. Den ganzen Tag über war das Mädchen allein, da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: „Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, dass du hier bist; lass ja niemand herein.“

Die Königin aber, nachdem sie Schneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die Erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach:

          „Spieglein, Spieglein. an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Da antwortete der Spiegel:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
          Aber Schneewittchen über den Bergen
          Bei den sieben Zwergen
          Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“

Da erschrak sie, denn sie wusste, dass der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte, dass der Jäger sie betrogen hatte und Schneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs Neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht und kleidete sich wie eine alte Krämerin und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: „Schöne Ware feil!“ Schneewittchen guckte zum Fenster hinaus und rief: „Guten Tag, liebe Frau, was habt Ihr zu verkaufen?“ – „Gute Ware, schöne Ware“, antwortete sie, „Schnürriemen von allen Farben“, und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. ‚Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen’, dachte Schneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. „Kind“, sprach die Alte, „wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.“ Schneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren. Aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, dass dem Schneewittchen der Atem verging und es für tot hinfiel. „Nun bist du die Schönste gewesen“, sprach sie und eilte hinaus.

Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Haus, aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Schneewittchen auf der Erde liegen sahen und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, dass es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei. Da fing es an ein wenig zu atmen und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: „Die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin; hüte dich und lass keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.“

Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte:

          „Spieglein, Spieglein an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Da antwortete er wie sonst:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
          Aber Schneewittchen über den Bergen
          Bei den sieben Zwergen
          Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“

Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie, denn sie sah wohl, dass Schneewittchen wieder lebendig geworden war. „Nun aber“, sprach sie, „will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll“, und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines anderen alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: „Gute Ware feil!“ Schneewittchen schaute heraus und sprach: „Geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.“ – „Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein“, sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, dass es sich betören ließ und die Türe öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte: „Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.“ Das arme Schneewittchen dachte an nichts und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. „Du Ausbund von Schönheit“, sprach das boshafte Weib, „jetzt ist's um dich geschehen“, und ging fort. Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Schneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht, suchten nach und fanden den giftigen Kamm, und kaum hatten sie ihn herausgezogen, so kam Schneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen.

Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach:

          „Spieglein, Spieglein an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Da antwortete er wie vorher:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
          Aber Schneewittchen über den Bergen
          Bei den sieben Zwergen
          Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“

Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. „Schneewittchen soll sterben“, rief sie, „und wenn es mein eigenes Leben kostet.“ Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, dass jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der musste sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Schneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: „Ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir's verboten.“ – „Mir auch recht“, antwortete die Bäuerin, „meine Äpfel will ich schon loswerden. Da, einen will ich dir schenken.“ – „Nein“, sprach Schneewittchen, „ich darf nichts annehmen.“ – „Fürchtest du dich vor Gift?“ sprach die Alte, „siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß, den weißen will ich essen.“ Der Apfel war aber so künstlich gemacht, dass der rote Backen allein vergiftet war. Schneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, dass die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach: „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.“ Und als sie daheim den Spiegel befragte:

          „Spieglein, Spieglein an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

so antwortete er endlich:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“

Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann.



Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Schneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es auf suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle siebene daran und beweinten es und weinten drei Tage lang. Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch und hatte noch seine schönen, roten Backen. Sie sprachen: „Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken“, und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, dass man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf und dass es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Schneewittchen, erst eine Eule dann ein Rabe. zuletzt ein Täubchen.

Nun lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz. Es geschah aber, dass ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Schneewittchen darin und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: „Lasst mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt.“ Aber die Zwerge antworteten: „Wir geben ihn nicht für alles Gold in der Welt.“ Da sprach er: „So schenkt mir ihn, denn ich kann nicht leben, ohne Schneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes.“ Wie er so sprach, empfanden die guten Zwerglein Mitleiden mit ihm und gaben ihm den Sarg. Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da geschah es, dass sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Schneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war wieder lebendig. „Ach Gott, wo bin ich?“ rief es. Der Königssohn sagte voll Freude: „Du bist bei mir“, und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach: „Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloss, du sollst meine Gemahlin werden.“ Da war ihm Schneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet.

Zu dem Feste wurde aber auch Schneewittchens gottlose Stiefmutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach:

          „Spieglein, Spieglein an der Wand,
          Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Der Spiegel antwortete:

          „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
          Aber die junge Königin ist noch tausendmal schöner als ihr.“  

Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und ward ihr so angst, dass sie sich nicht zu lassen wusste. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen; doch ließ es ihr keine Ruhe, sie musste fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hinein trat, erkannte sie Schneewittchen und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.

Ende

Donnerstag, 12. November 2009

Gebrüder Grimm - Hänsel und Gretel




Gebrüder Grimm

Hänsel und Gretel




Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: „Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?“ - „Weißt du was, Mann“, antwortete die Frau, „wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus und wir sind sie los.“ - „Nein, Frau“, sagte der Mann, „das tue ich nicht; wie sollt ich's übers Herz bringen, meine Kinder im Wald allein zu lassen! Die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen.“ - „Oh, du Narr“, sagte sie, „dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln“, und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte. „Aber die armen Kinder dauern mich doch“, sagte der Mann. Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht einschlafen können und hatten gehört, was die Stiefmutter zum Vater gesagt hatte. Gretel weinte bittere Tränen und sprach zu Hänsel: „Nun ist's um uns geschehen.“ - „Still, Gretel“, sprach Hänsel, „gräme dich nicht, ich will uns schon helfen.“ Und als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog sein Röcklein an, machte die Untertüre auf und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz helle und die weißen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und steckte so viele in sein Rocktäschlein, als nur hinein wollten. Dann ging er wieder zurück, sprach zu Gretel: „Sei getrost, liebes Schwesterchen und schlaf nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen“, und legte sich wieder in sein Bett.

Als der Tag anbrach, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die beiden Kinder: „Steht auf, ihr Faulenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz holen.“ Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach: „Da habt ihr etwas für den Mittag, aber esst's nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts.“ Gretel nahm das Brot unter die Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte. Danach machten sie sich alle zusammen auf den Weg nach dem Wald. Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und tat das wieder und immer wieder. Der Vater sprach: „Hänsel, was guckst du da und bleibst zurück, hab acht und vergiß deine Beine nicht!“ - „Ach, Vater“, sagte Hänsel, „ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen.“ Die Frau sprach: „Narr, das ist dein Kätzchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint.“ Hänsel aber hatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einen von den blanken Kieselsteinen aus seiner Tasche auf den Weg geworfen.

Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: „Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, damit ihr nicht friert.“ Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Das Reisig ward angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte die Frau: „Nun legt euch ans Feuer, ihr Kinder, und ruht euch aus, wir gehen in den Wald und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab.“
Hänsel und Gretel saßen um das Feuer und als der Mittag kam, aß jedes sein Stücklein Brot. Und weil sie die Schläge der Holzaxt hörten, so glaubten sie, ihr Vater wäre in der Nähe. Es war aber nicht die Holzaxt, es war ein Ast, den er an einen dürren Baum gebunden hatte und den der Wind hin und her schlug. Und als sie so lange gesessen hatten, fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu und sie schliefen fest ein. Als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht. Gretel fing an zu weinen und sprach: „Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen?“ Hänsel aber tröstete sie: „Wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden.“ Und als der volle Mond aufgestiegen war, so nahm Hänsel sein Schwesterchen an der Hand und ging den Kieselsteinen nach, die schimmerten wie neu geschlagene Batzen und zeigten ihnen den Weg. Sie gingen die ganze Nacht hindurch und kamen bei anbrechendem Tag wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Tür und als die Frau aufmachte und sah, dass es Hänsel und Gretel war, sprach sie: „Ihr bösen Kinder, was habt ihr so lange im Walde geschlafen, wir haben geglaubt, ihr wolltet gar nicht wiederkommen.“ Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen, dass er sie so allein zurückgelassen hatte.

Nicht lange danach war wieder Not in allen Ecken und die Kinder hörten, wie die Mutter nachts im Bette zu dem Vater sprach: „Alles ist wieder aufgezehrt, wir haben noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden. Es ist sonst keine Rettung für uns.“ Dem Mann fiel's schwer aufs Herz, und er dachte: 'Es wäre besser, dass du den letzten Bissen mit deinen Kindern teiltest.' Aber die Frau hörte auf nichts, was er sagte, schalt ihn und machte ihm Vorwürfe. Wer A sagt, muss B sagen, und weil er das erste Mal nachgegeben hatte, so musste er es auch zum zweiten Mal.

Die Kinder waren aber noch wach gewesen und hatten das Gespräch mit angehört. Als die Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf, wollte hinaus und die Kieselsteine auflesen, wie das vorige Mal; aber die Frau hatte die Tür verschlossen und Hänsel konnte nicht heraus. Aber er tröstete sein Schwesterchen und sprach: „Weine nicht, Gretel, und schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.“

Am frühen Morgen kam die Frau und holte die Kinder aus dem Bette. Sie erhielten ihr Stückchen Brot, das war aber noch kleiner als das vorige Mal. Auf dem Wege nach dem Wald bröckelte es Hänsel in der Tasche, stand oft still und warf ein Bröcklein auf die Erde. „Hänsel, was stehst du und guckst dich um?“ sagte der Vater, „geh deiner Wege!“ - „Ich sehe nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dache und will mir Ade sagen“, antwortete Hänsel. „Narr“, sagte die Frau, „das ist dein Täubchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein oben scheint.“ Hänsel aber warf nach und nach alle Bröcklein auf den Weg.

Die Frau führte die Kinder noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen waren. Da ward wieder ein großes Feuer angemacht und die Mutter sagte: „Bleibt nur da sitzen, ihr Kinder, und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen. Wir gehen in den Wald und hauen Holz und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab.“ Als es Mittag war, teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auf den Weg gestreut hatte. Dann schliefen sie ein und der Abend verging. Aber niemand kam zu den armen Kindern. Sie erwachten erst in der finstern Nacht und Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sagte: „Wart nur, Gretel, bis der Mond aufgeht, dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus.“ Als der Mond kam, machten sie sich auf. Aber sie fanden kein Bröcklein mehr, denn die viel tausend Vögel, die im Walde und im Felde umherfliegen, die hatten sie weggepickt. Hänsel sagte zu Gretel: „Wir werden den Weg schon finden.“ Aber sie fanden ihn nicht. Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend. Aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen. Und weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.

Nun war's schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Sie fingen wieder an zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald und wenn nicht bald Hilfe kam, so mussten sie verschmachten. Als es Mittag war, sahen sie ein schönes, schneeweißes Vöglein auf einem Ast sitzen, das sang so schön, dass sie stehen blieben und ihm zuhörten. Und als es fertig war, schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her und sie gingen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen gelangten, auf dessen Dach es sich setzte. Und als sie ganz nahe herankamen, so sahen sie, dass das Häuslein aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster waren von hellem Zucker. „Da wollen wir uns dranmachen“, sprach Hänsel, „und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen, Gretel, du kannst vom Fenster essen, das schmeckt süß.“ Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an die Scheiben und knupperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube heraus:

        „Knupper, knupper, Kneischen,
       Wer knuppert an meinem Häuschen?“


Die Kinder antworteten:

        „Der Wind, der Wind,
        Das himmlische Kind“,


und aßen weiter, ohne sich irre machen zu lassen. Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riss sich ein großes Stück davon herunter und Gretel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich nieder und tat sich wohl damit.



Da ging auf einmal die Türe auf und eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam heraus geschlichen. Hänsel und Gretel erschraken so gewaltig, dass sie fallen ließen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und sprach: „Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.“ Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward ein gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannekuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein weiß gedeckt und Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten, sie wären im Himmel.

Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken's, wenn Menschen herankommen. Als Hänsel und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch: „Die habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen!“ Früh morgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf und als sie beide so lieblich ruhen sah, mit den vollen roten Backen, so murmelte sie vor sich hin: „Das wird ein guter Bissen werden.“ Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein. Er mochte schreien, wie er wollte, es half ihm nichts. Dann ging sie zur Gretel, rüttelte sie wach und rief: „Steh auf, Faulenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas Gutes, der sitzt draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen.“ Gretel fing an bitterlich zu weinen; aber es war alles vergeblich, sie musste tun, was die böse Hexe verlangte.

Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: „Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist.“ Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen und meinte, es wären Hänsels Finger und verwunderte sich, dass er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da überkam sie die Ungeduld und sie wollte nicht länger warten. „Heda, Gretel“, rief sie dem Mädchen zu, „sei flink und trag Wasser! Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen.“ Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen musste und wie flossen ihm die Tränen über die Backen herunter! „Lieber Gott, hilf uns doch“, rief sie aus, „hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben!“ - „Spar nur dein Geplärre", sagte die Alte, "es hilft dir alles nichts.“

Früh morgens musste Gretel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden. „Erst wollen wir backen“, sagte die Alte, „ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet.“ Sie stieß das arme Gretel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Feuerflammen schon heraus schlugen. „Kriech hinein“, sagte die Hexe, „und sieh zu, ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hinein schieben können.“ Und wenn Gretel darin war, wollte sie den Ofen zumachen und Gretel sollte darin braten und dann wollte sie's aufessen. Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte, und sprach: „Ich weiß nicht, wie ich's machen soll; wie komm ich da hinein?“ „Dumme Gans“, sagte die Alte, „die Öffnung ist groß genug, siehst du wohl, ich könnte selbst hinein“, krabbelte heran und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoß, dass sie weit hinein fuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Huuu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort und die gottlose Hexe musste elendiglich verbrennen.

Gretel aber lief schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein Ställchen und rief: „Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot.“ Da sprang Hänsel heraus wie ein Vogel aus dem Käfig, wenn ihm die Türe aufgemacht wird. Wie haben sie sich gefreut, sind sich um den Hals gefallen, sind herum gesprungen und haben sich geküsst! Und weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, so gingen sie in das Haus der Hexe hinein. Da standen in allen Ecken Kasten mit Perlen und Edelsteinen. „Die sind noch besser als Kieselsteine“, sagte Hänsel und steckte in seine Taschen, was hinein wollte. Und Gretel sagte: „Ich will auch etwas mit nach Haus bringen“, und füllte sein Schürzchen voll. „Aber jetzt wollen wir fort“, sagte Hänsel, „damit wir aus dem Hexenwald herauskommen.“ Als sie aber ein paar Stunden gegangen waren, gelangten sie an ein großes Wasser. „Wir können nicht hinüber“, sprach Hänsel, „ich seh keinen Steg und keine Brücke.“ „Hier fährt auch kein Schiffchen“, antwortete Gretel, „aber da schwimmt eine weiße Ente, wenn ich die bitte, so hilft sie uns hinüber.“ Da rief sie:

        „Entchen, Entchen,
        Da steht Gretel und Hänsel.
        Kein Steg und keine Brücke,
        Nimm uns auf deinen weißen Rücken.“


Das Entchen kam auch heran und Hänsel setzte sich auf und bat sein Schwesterchen, sich zu ihm zu setzen. „Nein“, antwortete Gretel, „es wird dem Entchen zu schwer, es soll uns nacheinander hinüberbringen.“ Das tat das gute Tierchen und als sie glücklich drüben waren und ein Weilchen fort gingen, da kam ihnen der Wald immer bekannter und immer bekannter vor und endlich erblickten sie von weitem ihres Vaters Haus. Da fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herum sprangen und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen.

Ende


Donnerstag, 22. Oktober 2009

Ludwig Bechstein - Der weiße Wolf




Ludwig Bechstein

Der weiße Wolf



Ein König ritt jagen in einem großen Walde, darinnen er sich verirrte und musste manchen Tag wandern und manche Nacht, fand immer nicht den rechten Weg und musste Hunger und Durst leiden. Endlich begegnete ihm ein kleines schwarzes Männlein, das fragte der König nach dem rechten Weg. „Ich will dich wohl führen und geleiten“, sagte das Männchen, „aber du musst mir auch etwas dafür geben, du musst mir das geben, was dir aus deinem Hause zuerst entgegen kommt.“ Der König war froh und sprach unterwegs: „Du bist recht brav, Männchen, wahrlich und wenn mein bester Hund mir entgegenlief, so wollt ich dir ihn doch gern zum Lohne geben.“

Das Männlein aber erwiderte: „Deinen besten Hund, den mag ich nicht, mir ist was andres lieb.“ Wie sie nun beim Schlosse ankamen, so sah des Königs jüngste Tochter durchs Fenster ihren Vater geritten kommen und sprang ihm fröhlich entgegen. Da sie ihn aber in ihre Arme schloss, sprach er: „Ei, wollt ich doch, dass lieber mein bester Hund mir entgegen gekommen wäre!“ Über diese Rede erschrak die Königstochter gar sehr und weinte und rief: „Wie das, mein Vater, ist dir dein Hund lieber denn ich und sollte er dich froher willkommen heißen?“ Aber der König tröstete sie und sagte: „O, liebe Tochter, so war es ja nicht gemeint!“ und erzählte ihr alles. Sie aber blieb ganz standhaft und sagte: „Es ist besser so, als dass mein lieber Vater umgekommen wäre im wilden Walde“, und das Männchen sagte: „Nach acht Tagen hole ich dich.“


Und nach acht Tagen richtig, da kam ein weißer Wolf in das Königsschloss und die Königstochter musste sich auf seinen Rücken setzen und heisa, da ging’s durch dick und dünn, bergauf und ab, und die Königstochter konnte das Reiten auf dem Wolf nicht aushalten und fragte: „Ist’s noch weit“ – „Schweig! Weit, weit ist’s noch zum gläsernen Berge – schweigst du nicht, so werf ich dich herunter!“ Nun ging es wieder so fort, bis die arme Königstochter wieder zagte und klagte und fragte, ob es noch weit sei. Und da sagte ihr der Wolf die nämlichen drohenden Worte und rannte immer fort, immer weiter, bis sie zum dritten male die Frage wagte, da warf er sie auf der Stelle von seinen Rücken herunter und rannte davon.

Nun war die arme Prinzessin ganz allein in dem finstern Walde und ging und ging und dachte: 'Endlich werde ich doch einmal zu Leuten kommen.' Und endlich kam sie an eine Hütte, da brannte ein Feuerchen und da saß ein altes Waldmütterchen, das hatte ein Töpfchen am Feuer. Und da fragte die Königstochter „Mütterchen, hast du den weißen Wolf nicht gesehen?“ – „Nein, da musst du den Wind fragen, der fragt überall herum. Aber bleibe erst noch ein wenig hier und iß mit mir. Ich koche hier ein Hühnersüppchen.“ Das tat die Prinzessin und als sie gegessen hatten, sagte die Alte: “Nimm die Hühnerknöchelchen mit dir, du wirst sie gut gebrauchen können.“ Dann zeigte ihr die Alte den rechten Weg nach dem Winde.
Als die Königstochter bei dem Winde ankam, fand sie ihn auch am Feuer sitzen und sich eine Hühnersuppe kochen, aber auf ihre Frage nach dem weißen Wolf antwortete er ihr: „Liebes Kind, ich habe ihn nicht gesehen, ich bin heute einmal nicht gegangen und wollte mich einmal hübsch ausruhen. Frage die Sonne, die geht alle Tage auf und unter, aber erst mache es wie ich, ruhe dich aus und iß mit mir, hernach kannst du auch alle die Hühnerknöchlein mit dir nehmen, wirst sie wohl gut brauchen können.“

Als dies geschehen war, ging die Kleine nach der Sonne zu und es ging da gerade wieder wie beim Winde, die Sonne kochte sich gerade eine Hühnersuppe an sich selbst, daher es damit sehr geschwind ging, hatte auch den weißen Wolf nicht gesehen und lud die Prinzessin zum Mitessen ein. „Du musst den Mond fragen, denn wahrscheinlich läuft der weiße Wolf nur des Nachts und da sieht der Mond alles.“ Und als nun die Königstochter mit der Sonne gegessen und die Knöchlein aufgesammelt hatte, ging sie weiter und fragte den Mond. Auch er kochte Hühnersuppe und sagte: „Ei, es ist fatal, ich habe letzt nicht geschienen und bin zu spät aufgegangen, ich weiß gar nichts von dem weißen Wolf.“ Da weinte das Mädchen und rief: „O Himmel, wen soll ich nun fragen?“ – „Nun, nur Geduld mein Kind“, sagte der Mond. „Vor Essen, wird kein Tanz, setze dich und iß erst die Hühnersuppe mit mir und nimm auch die Knöchelchen mit, du wirst sie wohl brauchen. Etwas Neues weiß ich doch: im gläsernen Berge das schwarze Männchen – das hält heute Hochzeit, der Mann im Mond ist auch dazu eingeladen.“ – „Ach der gläserne Berg, der gläserne Berg! Dahin wollte ich ja eben, dahin hat mich ja der weiße Wolf tragen sollen!“ rief die Königstochter. „Nun bis dorthin kann ich dir schon leuchten und den Weg zeigen“, sagte der Mond, „sonst könntest du dich leidlich irren, denn ich zum Beispiel bestehe ganz und gar aus lauter gläsernen Bergen. Nimm immer deine Knöchlein hübsch alle mit.“ Das tat die Prinzessin, aber in der Eile vergaß sie doch ein Knöchlein.

Bald stand sie an dem gläsernen Berge, aber der war ganz glatt und glitschig, da war nicht hinauf zu kommen, aber da nahm die Königstochter alle Hühnerknöchlein von der alten Waldmutter, von dem Winde, von der Sonne und von dem Monde und machte sich daraus eine Leiter, die wurde sehr lang, aber, o weh!, zuletzt fehlte noch eine einzige Sprosse, noch ein Glied. Da schnitt sich die Prinzessin das oberste Gelenk von ihrem kleinen Finger ab und so tat es gut und sie konnte nun rasch zum Gipfel des gläsernen Berges erklimmen. Oben war eine große Öffnung, da führte eine schöne Treppe hinunter und war alles voll Glanz und Pracht und war ein Saal da voll Hochzeitgäste und viele Musikanten und reich besetzte Tafeln. Und da saß das schwarze Männlein und an seiner Seite saß eine Dame, die war seine Braut, aber das schwarze Männlein aber schien traurig. Und der Königstochter tat es auch so weh, dass sie nun zu spät kam und dass das schwarze Männlein so traurig war und dachte bei sich: "Ich will ein Lied vom weißen Wolf singen, vielleicht kennt er mich dann." Denn er hatte sie noch gar nicht angesehen, folglich auch nicht wieder erkannt. Und da stand eine Harfe an der Wand, welche die Prinzessin gut spielte, die nahm sie nun und sang:

    „Deinen besten Hund, den mag ich nicht,
    Mir ist was andres lieb!
    Die jüngste Königstochter.

    Der weiße Wolf, der lief davon,
    Sie weiß nicht, wo er blieb;
    Die jüngste Königstochter.“

Da horchte das schwarze Männlein hoch auf, aber die Prinzessin fuhr fort zu spielen und zu singen:

    „Sie ist dem Wolfe nachgereist,
    Schnitt ab ihr Fingerglied,
    Die jüngste Königstochter.

    Nun ist sie da – du kennst sie nicht,
    Traurig singt dir dies Lied
    Die jüngste Königstochter.“

Da sprang das schwarze Männlein von seinem Sitze auf und war plötzlich ein ganz schöner junger Prinz und eilte auf sie zu und schloss sie in seine Arme.

Alles war Zauber gewesen. Der Prinz war in das alte Männlein und in den weißen Wolf und in den gläsernen Berg hinein verzaubert so lange bis eine Prinzessin, um zu ihm zu gelangen, sich’s ein Glied von ihrem kleinen Finger kosten lassen würde. Wenn das aber bis zu einer gewissen Zeit nicht geschähe, so müsse er eine andre freien und ein schwarzes Männlein bleiben all sein Leben lang. Nun war der Zauber gelöst und die andre Braut verschwand, der entzauberte Prinz heiratete die Königstochter, reiste darauf mit ihr zu ihrem Vater, der sich herzlich freute, sie wieder zu sehen und lebten alle glücklich miteinander bis an ihr

Ende.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Gebrüder Grimm - Dornröschen





Gebrüder Grimm
Dornröschen


Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: „Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“, und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: „Dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.“ Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der König vor Freude sich nicht zu lassen wusste und ein großes Fest anstellte.


Er ladete nicht bloß seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elf ihre Wünsche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, dass es jedermann, der es ansah, liebhaben musste. Es geschah, dass an dem Tage, wo sie gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren und das Mädchen ganz allein im Schloss zurückblieb. Da ging es allerorten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe auf, und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du altes Mütterchen“, sprach die Königstochter, „was machst du da?“ – „Ich spinne“, sagte die Alte und nickte mit dem Kopf. „Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?“ sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger.
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss: der König und die Königin, die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand. Ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein und der Braten hörte auf zu brutzeln und der Koch, der den Küchenjungen, weil der die Suppe versalzen hatte, eine Ohrfeige geben wollte, ließ los und schlief ein. Und der Wind legte sich und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloss umzog und darüber hinaus wuchs, dass gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach. Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, als dass von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloss dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen, langen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte, es sollte ein Schloss dahinter stehen, in welchem eine wunderschöne Königstochter ‚Dornröschen’ genannt, schon seit hundert Jahren schliefe und mit ihr schliefe der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wusste auch von seinem Großvater, dass schon viele Königssöhne gekommen wären und versucht hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängengeblieben und eines traurigen Todes gestorben. Da sprach der Jüngling: „Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen.“ Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte.



Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter wunderschöne rote Rosen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schlosshof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag der König und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so still, dass einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte und er bückte sich und gab ihm einen Kuss. Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz freundlich an. Dann gingen sie zusammen herab und der König erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten; die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu brutzeln; und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr

Ende

Samstag, 3. Oktober 2009

Gebrüder Grimm - Der Wolf und die sieben jungen Geißlein





Gebrüder Grimm

Der Wolf und die sieben jungen Geisslein



Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein. Sie hatte sie so lieb, wie eben eine Mutter ihre Kinder liebhat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehen und Futter holen. Da rief sie alle sieben herbei und sprach: „Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf, wenn er hereinkommt, so frisst er euch mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn gleich erkennen.“ Die Geißlein sagten: „Liebe Mutter, wir wollen uns schon in acht nehmen, Ihr könnt ohne Sorge fortgehen.“ Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg.




Es dauerte nicht lange, so klopfte jemand an die Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“ Aber die Geißerchen hörten an der rauhen Stimme, dass es der Wolf war. „Wir machen nicht auf“, riefen sie, „du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme, aber deine Stimme ist rauh. Du bist der Wolf!“ Da ging der Wolf fort zum Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide. Die aß er und machte damit seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“ Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote auf das Fensterbrett gelegt, das sahen die Kinder und riefen: „Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß wie du. Du bist der Wolf!“ Da lief der Wolf zu einem Bäcker und sprach: „Ich habe mich an den Fuß gestoßen, streich mir Teig darüber!“ Und als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, so lief er zum Müller und sprach: „Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote.“ Der Müller dachte: ‚Der Wolf will einen betrügen’, und weigerte sich. Aber der Wolf sprach: „Wenn du es nicht tust, so fresse ich dich!“ Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß. Ja, das sind die Menschen.


Nun ging der Bösewicht zum dritten Mal zu der Haustür, klopfte an und sprach: „Macht mir auf, Kinder, euer liebes Mütterchen ist heimgekommen und hat jedem von euch etwas aus dem Walde mitgebracht!“ Die Geißerchen riefen: „Zeig uns zuerst deine Pfote, damit wir wissen, dass du unser liebes Mütterchen bist.“ Da legte er die Pfote ins Fenster und als sie sahen, dass sie weiß war, so glaubten sie, es wäre alles wahr, was er sagte und machten die Türe auf. Wer aber hereinkam, das war der Wolf. Sie erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das siebente in den Kasten der Wanduhr. Aber der Wolf fand sie alle und machte nicht langes Federlesen; eins nach dem andern schluckte er in seinen Rachen. Nur das jüngste in dem Uhrkasten, das fand er nicht. Als der Wolf seine Lust gebüßt hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf der grünen Wiese unter einen Baum und fing an zu schlafen.

Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim. Ach, was musste sie da erblicken! Die Haustür stand sperrweit auf! Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber niemand antwortete. Endlich, als sie an das jüngste kam, antwortete eine feine Stimme: „Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten!“ Sie holte es heraus und es erzählte ihr, dass der Wolf gekommen wäre und die anderen alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken, wie sie über ihre armen Kinder geweint hat.

Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus und das jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kam, so lag der Wolf an dem Baum und schnarchte, dass die Äste zitterten. Sie  betrachtete ihn von allen Seiten und sah, dass in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. ‚Ach Gott’, dachte sie, ‚sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?’ Da musste das Geißlein nach Hause laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungetüm den Wanst auf  und kaum hatte sie einen Schnitt getan, so streckte schon ein Geißlein den Kopf heraus. Und als sie weiter schnitt, so sprangen nacheinander alle sechse heraus und waren noch alle am Leben und hatten nicht einmal Saden gelitten, denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Das war eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter und hüpften wie ein Schneider, der Hochzeit hält. Die Alte aber sagte: „Jetzt geht und sucht Wackersteine, damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch füllen, solange es noch im Schlafe liegt.“ Da schleppten die sieben Geißerchen in aller Eile die Steine herbei und steckten sie ihm in den Bauch, soviel sie hineinbringen konnten. Dann nähte ihn die Alte in aller Geschwindigkeit wieder zu, dass er nichts merkte und sich nicht einmal regte.

Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Beine und weil ihm die Steine im Magen so großen Durst erregten, so wollte er zu einem Brunnen gehen und trinken. Als er aber anfing zu gehen und sich hin und her zu bewegen, so stießen die Steine in seinem Bauch aneinander und rappelten. Da rief er:

          „Was rumpelt und pumpelt
          In meinem Bauch herum?
          Ich meinte, es wären sechs Geißlein,
          Doch sind's lauter Wackerstein.“

Und als er an den Brunnen kam und sich über das Wasser bückte und trinken wollte, da zogen ihn die schweren Steine hinein und er musste jämmerlich ersaufen. Als die sieben Geißlein das sahen, da kamen sie herbeigelaufen und riefen laut: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“ und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den Brunnen herum.

Ende

Der gastliche Kalbskopf - nach Ludwig Bechstein




Der gastliche Kalbskopf

frei erzählt nach Ludwig Bechstein



Ein Elternpaar hatte drei Söhne, zwei waren gescheit, oder bildeten sich wenigstens ein, dies zu sein, der dritte, jüngste, Hans, war immer der dumme. Nur seine Mutter liebte ihn so, wie er war. Daher war er auch oft der Gegenstand des Neides seiner Brüder. Als die großen ziemlich herangewachsen waren, beschlossen sie, gemeinschaftlich die Welt zu sehen und draußen ihr Glück zu machen. Sie sprachen daher zu ihrem Vater: „Vater, gib jedem von uns zehn goldene Taler, wir wollen hinaus in die Welt, wollen fremde Städte und Länder sehen und unser Glück machen.“ Und zur Mutter sprachen sie: „Mutter, gib uns einen Beutel voll Brot und Speck, wir wollen eine weite Reise tun.“ –
„Es ist gut, wenn die Jungen fortkommen und sich draußen Arbeit suchen, wir wollen sie ziehen lassen!“ sprach die Mutter zum Vater und so wurde der Brüder Wunsch erfüllt.



Wie die Brüder zu ihrer Reise rüsteten, sah es Hans und wie er ihren Entschluss vernahm, so sagte er: „Will auch mit! Will auch zehn Goldtaler, will auch einen Ranzen voll Speck und Brot! Auch in die Welt!“ –

„Du wirst etwas Rechtes draußen sehen und erreichen, dummer Hans!“ grollte der Vater und die Mutter schrie: „Ach, mein Goldkind! Bleibe daheim und nähre dich redlich!“
Aber der Hans wollte einmal und da half kein Zureden, er erhielt, was die Brüder erhalten hatten und wanderte mit ihnen von dannen.

„Dümmeres gibt es gar nicht, als dass der dumme Hans sich uns aufgepackt hat! Der konnte doch wahrlich daheim bleiben! Der wird was Gescheites erleben! Wir wollen tüchtig drauf los schreiten, dass er uns nicht nachkommt, da wird er schon von selbst umkehren“, sprachen die Brüder auf ihrem Wege untereinander. Als bereits Hans, der jüngste, ein Stückchen zurückgeblieben war, weil er nicht so große Schritte machen konnte, als seine zwei älteren Brüder.

Hans ließ die Brüder noch eine Strecke hinlaufen. Auf einmal schrie er: „Heida! Holla! Was ist das? Was liegt da? Ach, ein Schatz!“

Die Brüder, als sie den Hans so rufen hörten, blieben stehen, sahen sich um, sahen, wie ihr Bruder sich bückte und Zeichen der Verwunderung über etwas machte, was dort lag, dann sprachen sie zueinander: „Schau, der Hans hat etwas gefunden, daran wir, ins Gespräch vertieft, vorüber gingen, geschwinde zurück!“

Eilend liefen die älteren Brüder zu ihrem Hans zurück, und sahen nach dem Schatz, den Hans gefunden hatte – es lag aber nichts dort, als eine Glasscherbe, die in der Sonne blitzte.

„Dummer Hans!“ schalten die getäuschten Brüder. „Nein“, sprach Hans, „ist’s kein Diamant? Tut mir leid!“

Nach einer Weile waren die Brüder dem kleineren und schwächeren Hans wieder eine gute Strecke vorgeschritten und er konnte nicht nachkommen, weil er sich im Gehen niemals sonderlich geübt hatte. Da schrie er abermals: „Hei! Holla! Aber das ist was! He! Kommt all daher! Ach, die Pracht! Ach, die Pracht!“ und dabei machte er Freudensprünge um einen Punkt.

Die Brüder glaubten, der Hans habe jetzt wirklich etwas gefunden und liefen zu ihm zurück. Als sie aber die Stelle erreichten, war es ein großer Schwarm Goldkäfer, die zufällig auf einen Punkt zusammengekommen waren und ihre goldenen Rücken schillerten in der Sonne. Die älteren Brüder beschimpften den Hans noch schlimmer. Der Hans aber machte sein dümmstes Gesicht und sagte: „Ich dachte, es wäre ein Haufen Goldklümpchen. Ist’s nichts? Tut mir leid.“ Er hatte aber beide Male nur gerufen, um wieder bei den Brüdern zu sein, ohne seine Schritte verdoppeln zu müssen und sie einzuholen.

Leider ließ sich dieses zweimal erprobte Kunststück nicht fortsetzen. Als Hans nach einer Strecke Weges in einem Walde abermals zurückgeblieben war und wieder bei einem Funde stehen blieb und schrie, so taten seine Brüder, als hörten sie es nicht und gingen weiter ihres Weges und waren bald hinter den Waldbäumen verschwunden.
„Lauft hin, wenn ihr mich nicht mitnehmen wollt!“ sprach Hans, „so kann ich desto besser ausruhen!“ Er setzte sich auf einen Stein und öffnete seinen Beutel. Aß Brot und Speck, trank auch einmal, denn die Mutter hatte ihm vorsorglich eine gefüllte Flasche in den Beutel geschoben, dann legte er an einer bequemen Stelle den Beutel unter den Kopf und machte ein Schläfchen. Da der Hans weites Wandern nicht gewohnt und sehr müde geworden war, so dauerte sein Schläfchen etwas lange und als er endlich daraus erwachte, begann es schon Abend zu werden.

‚O weh, o weh!’ dachte Hans. ‚Ist es schon so spät! Wo soll ich nun hin, bei der Nacht und im Walde? Räuber können kommen und mir meine zehn Taler nehmen. Wölfe können kommen, und mir mein übriges Brot samt Speck fressen, und hinterdrein mich dazu. Das wird nicht gut. Hans, Hans! Wärst du doch zu Hause bei der Mutter geblieben!’

Es wurde schnell dunkel und Hans fürchtete sich, weiter zu gehen. ‚Wo ich alleweil bin, ist außer mir niemand’, sprach er zu sich selbst, ‚und ich tue mir nichts. Gehe ich aber weiter, so könnte ich auf jemand stoßen, der mir was tut. Hier steht eine dicke Eiche, da will ich hinaufsteigen und mich oben in das Geäste setzen, da sucht mich kein Räuber, und Wölfe klettern nicht.’

Gedacht, getan, Hans kletterte auf den Baum, und sah sich droben ein wenig um. Siehe, da erblickte er ganz nahe ein stattliches Haus, dessen Zimmer von Lichtern erhellt waren.

„O ich dummer Hans!“ rief Hans. „Konnte ich nicht noch ein paar Schritte gehen, und in dem schönen Hause einkehren? Potz Blitz! Wenn man zehn Taler in der Tasche hat, braucht man da ein Nachtquartier auf Waldbäumen zu suchen?“ Eilend kletterte Hans vom Baume wieder herab und schritt nach dem Hause zu, dessen Lichter ihm bald entgegen schimmerten. Bald stand er vor dem Hause, es war hell und groß, nur nichts Lebendes ließ sich sehen. Hans fand die Türe offen, alles hell von brennenden Kerzen, auch die Türen einer Reihe von Zimmern standen geöffnet, aber nirgends ein Mensch, auch kein Hund und keine Katze. Indessen stand in einem der Zimmer ein gedeckter  Tisch, darauf standen eine Flasche voll Wein und Teller voll Würsten und Brot, kalten Braten, Butter, Käse u. dergleichen. In einem Zimmer gleich daneben stand eine schöne Wiege, er schaute nach und in der Wiege lag ein K – nein, kein Kind, sondern ein sehr schöner Kalbskopf, auf seidenen Kissen. Hans schielte hinein und murmelte: „Ein prächtiger Kalbskopf! Schade, dass selbiger nicht gebraten ist. Zu dem hätte ich just Appetit.“ Plötzlich öffnete der Kalbskopf seine Augen – und Hans erschrak, er hatte nicht gedacht, dass derselbe lebendig sei.

„Schönen guten Abend“, sagte der Kalbskopf und ganz erschrocken stammelte Hans: „Gu-gu-guten Abend!“ Das war eine neue Erfahrung, der gute Hans hatte noch nie einen Kalbskopf reden gehört.

„Sei willkommen!“ sprach der Kalbskopf weiter. „Mir wird die Zeit so grässlich lang. Setze dich, iß, trink, mache dir’s bequem, dort steht ein Himmelbette, da kannst du gut schlafen. Wenn du aber morgen munter bist, da kannst du mir erzählen, wie es draußen in der Welt zugeht.“

‚Ich?’ dachte Hans und erschrak aufs Neue. ‚Ich soll von der Welt erzählen? Das werden ja tolle Geschichten. Wenn ich nun nichts weiß da tut mir das Kalbsding am Ende noch etwas. Ob es wohl ein ganzes Kälbchen ist, oder nur ein Kopf? Ob es wohl aus der Wiege herausspringen kann? Beißen wird es doch nicht – dazu sieht es zu gutmütig aus.’

Hans setzte sich und aß und ließ sich’s trefflich wohl schmecken, doch quälten ihn über dem Essen, Gedanken was noch nie bei ihm der Fall gewesen war.

‚Wie fang ich’s nur an’, dachte Hans, „dass ich nicht gegen die Höflichkeit verstoße? Wie spreche ich den Kalbskopf an? Ich kann nicht unterscheiden, ob es ein Er ist oder eine Sie ist? Ich werde gewiss etwas Dummes machen, so oder so.’

Trotz dieser schweren Gedanken ließ sich’s Hans doch außerordentlich gut schmecken und als die Mahlzeit gehalten war, kam es zu keiner Abendunterhaltung zwischen ihm und dem Kopfe, denn Hans war sehr müde und legte sich in das Himmelbette und schlief bis in den andern Tag hinein. Der Kalbskopf nahm das nicht übel, er hatte eine bewunderungswerte Geduld. Am andern Morgen fand Hans seine Kleider gereinigt und sein Frühstück neben der Wiege des Kalbskopfes, der ihm freundlich guten Morgen sagte und seine Ohren mit vieler Anmut bewegte. Nun aber sollte Hans erzählen und machte den Versuch und siehe, es ging besser, als er geglaubt. Er begann zunächst von sich, denn jeder Mensch ist der Mittelpunkt seiner Welt, von seiner Mutter, von dem Vater, den Brüdern, den Tanten und Onkeln und von deren Kindern. Von dem Hause seiner Eltern, deren Viehstall, wie viele Ziegen, Enten, Hühner, wie viele Kätzchen. Dann vom Gärtchen, von dessen Bäumen, Beeten und Blumen.

Hans hatte an dem Kalbskopf den geduldigsten Zuhörer. Bisweilen schien es Hans, als glänze eine Träne in dessen großen blassblauen Augen und als atme er tiefer auf, fast wie ein Mensch seufzt. Ein Wort gab das andere, nie stockte die Unterhaltung. Hans schilderte bis ins einzelne das Dorf, in dem sein Elternhaus stand, die Häuser, die Kirche, die Schule, den Kirchhof, die Grabsteine, den Pfarrer, den Bürgermeister, dann die Flur des Dorfes, den Bach, die nächsten Berge.

Hans war über sich selbst verwundert, dass er so vieles wusste. Darüber verging mancher Tag. Dann fielen ihm auch alle Märchen ein, welche ihm die Großmutter, als diese noch lebte, und er noch ein kleiner Junge gewesen war, erzählt hatte: von verzauberten Prinzen und Prinzessinnen, von Zauberfeen und Hexen, von verwunschenen Schlössern und gläsernen Bergen. Das alles hörte der Kalbskopf mit großem Wohlgefallen an. Besonders schien er sich zu freuen, wenn die Märchen schilderten, wie die verzauberten Prinzen und Prinzessinnen ihre Erlösung gefunden. Und dabei sorgte der Kalbskopf auf das eifrigste dafür, dass es Hans niemals an Trank und Speise mangle und dass er sich und sein Gedächtnis durch allzu vieles Erzählen ja nicht zu sehr anstrenge. Es war ein wahrhaft gastlicher Kalbskopf. Immer mehr fiel dem Hans ein: er erzählte von den Gespenstern, die es gebe, von Feuermännern und Irrwischen, vom Wilden Jäger und von dem Erdmännlein, von der Nixe im Bache und dem weißen Fräulein am alten Schlossberge in der Nähe seines Dorfes. Endlich fiel dem Hans ein, dass er ja auch musikalisch sei und ein Instrument bei sich habe, das er zur Unterhaltung trefflich zu spielen verstehe. Hans packte dieses Musikinstrument, das sehr sorglich verwahrt war, aus: es war eine Mundharmonika und als Hans die ersten Töne darauf spielte, machte der Kalbskopf ganz große Augen und drückte durch Wedeln mit den blonden Ohren seinen stillen Beifall aus.

Lange Zeit erfreute sich Hans der Gastlichkeit des Kalbskopfes und der stets unsichtbar bleibenden Bedienung des Hauses, und dachte: ‚Es ist gut, dass ich nichts von der Dienerschaft sehe, da brauche ich auch kein Trinkgeld zu geben, wenn ich wieder fortgehe’, denn der Gedanke an das Fortgehen war dem Hans doch allmählich gekommen. Er kannte keine andere Welt als die kleine seines Heimatortes. Sie füllte seine Seele und den Kreis seiner Ideen aus und da er täglich nur von ihr sprach, mit allen Gedanken nur in ihr lebte, so war es kein Wunder, dass eine stille Heimatsehnsucht im Herzen von Hans erwachte.

Der Kalbskopf besaß ungleich mehr Einfühlungsvermögen, als die überklugen Menschen und nahm daher eines Tages, als Hans wieder vom Daheim erzählte und dabei ein trauriges Gesicht machte, das verständige Wort: „Mein guter Freund“, sprach er, „Du sehnst dich heim. Ich begreife dieses Gefühl und verstehe dasselbe. Reise heim, ich will dich ausstatten, wie du es noch nie warst, aber kehre wieder. Dort liegt ein kleiner Schlüssel, er passt in jedes Schloss, auch in jenen Schrank da hinten und wähle dir aus den darin liegenden Anzügen den schönsten aus. Dort jene Tür führt zum Stall. Öffne sie mit dem Schlüssel und wähle dir das beste Ross. Dort in jener Kiste liegt Gold und ein Zauberpfeifchen. Wenn du verirrt bist und du pfeifst darauf, so kommen Tiere gesprungen und laufen dir voran und zeigen dir den richtigen Weg.“ Hans staunte und tat, wie ihm geheißen war.

Heilig und teuer versprach Hans dem Kalbskopfe, zu ihm zurück zu kommen. Ob Hans dem gastlichen Kalbskopf zum Abschiede einen Kuss gegeben, weiß man nicht so ganz bestimmt.

Im stattlichsten Anzug mit goldenen Tressen besetzt, auf prächtigem Schimmel ritt Hans von dannen, alle Taschen voll Gold und das Pfeifchen an goldener Schnur um den Hals.

Wie ging es unterdessen seine ach so klugen Brüdern? Die waren sehr froh, dass der dumme Hans sie nicht mehr belästigte. Sie ließen sich’s recht gut schmecken, so lange Brot und Speck in ihren Ranzen vorhielten und so lange in den Wirtshäusern die zehn Taler eines jeden ausreichten, was nur acht Tage dauerte. Dann aber sprachen sie zueinander: „Die Welt ist doch zu groß, als dass wir sie ganz kennen lernen könnten. Wie wäre es, wenn wir umkehrten? Es ist doch überall nicht besser, als daheim. Wir haben in diesen acht Tagen eine ziemliche Anzahl Wirtshäuser gesehen, es sieht fast das eine aus, wie das andere. Wir haben zwar kein sonderliches Glück gemacht, aber wir hätten ja vielleicht etwas finden können. Dass uns hier draußen nichts vom Glücke begegnete, ist ein Beweis der alten Wahrheit, dass nur in der Heimat eines jeglichen der wahre Schatz seines Glückes ruht. Eilen wir, diesen Schatz wieder aufzusuchen.“

Als die Brüder heim kamen, sah sie der Vater finster an und sagte: „Ihr seid die wahren Helden, ihr Landstreicher! Ihr Tagediebe! Zwanzig Taler habt ihr durchgebracht und für zehn Taler Kleider und Schuhe bei Raufereien zerrissen. Jetzt arbeitet dafür! Nicht einen Groschen gebe ich euch, bis ihr mir das an euch zum Fenster hinausgeworfene Geld ersetzt habt!“

Die Mutter aber rief: „Ihr Rangen! Wo habt ihr meinen Hans, meinen Jüngsten? Wie könnt ihr euch nur unterstehen, ohne meinen Hans über unsere Schwelle zu schreiten?“
Es fiel den Brüdern sehr schwer, die zürnende Mutter glauben zu machen, dass Hans mit Absicht immer hinter ihnen zurückgeblieben sei, ganz sicher, um sich abzusondern.
Die Brüder mussten fürchterlich arbeiten, denn dreißig Goldtaler wollen verdient sein.

Nach drei Wochen gegen Abend entstand im Dorf ein großer Auflauf. Es ritt ein vornehmer Reiter hindurch, angetan wie ein Edelmann. Die Leute dachten, es wäre der Prinz selbst.

Alles lief an die Fenster, vor die Türen und ein großer Haufe lief hinterdrein. Da fielen blanke Goldstücke auf den Weg, nun war es schon der König und alles schrie: „Vivat!“ und schlug sich um die Goldstücke. Vor dem Elternhaus von Hans hielt der schmucke junge Reitersmann und stieg vom Rosse.

Die Eltern traten ehrerbietig vor ihr Häuslein. Was konnte bei ihnen der fremde Herr wollen? Die Brüder kamen von der Arbeit und sahen Mistfinken ähnlicher als Goldammern. Ihre Mäuler blieben offen stehen vor Verwunderung, als der Fremde erst ihrer Mutter, dann ihrem Vater um den Hals fiel und sie herzte und küsste und hernach rief: „Na, Michel, na Karl! Seid gegrüßt! Ihr kennt am Ende euern Hans nicht mehr?“ und ihnen die Hände bot.

Es war der Hans und kein Prinz und kein König. „Der dumme Hans ist wieder da, ist reich geworden und wirft mit Geld um sich, der Hans Narr!“ lief die Rede durchs Dorf. Die Alten freuten sich, die Brüder zogen mit scheelem Neide das schönes Pferd von Hans in den Stall und flüsterten miteinander: „Wir müssen uns tot schinden, um dem Vater die armseligen dreißig Taler wieder zu verdienen. Und Hans, der Glückspilz, der gar nicht mit Gelde umzugehen weiß, wirft es auf die Gasse. Wir wollen ihm heute Nacht das Geld wegnehmen, es ist ihm doch nicht nütze. Überhaupt ist nicht recht einzusehen, warum so ein Dummer glücklich sein soll?“

In der Nacht kamen die Brüder in die Kammer, wo Hans schlief. Hans war aber nicht so dumm, wie seine Brüder dachten. Er bemerkte, wie sie seine Sachen durchwühlten und stürzte sich sofort auf die zwei älteren. Obwohl sie größer waren, schlug er sich so tapfer und mit aller Kraft dass sie laut aufheulten: „Au, au, auweih!“ und glaubten das der Himmel eine Bassgeige sei. Darauf flohen sie schleunigst in ihre Zimmer und verschlossen angst schlottern die Türen.

Hans verlebte etliche schöne Tage mit seinen Eltern. Die bösen Brüder ließen sich nicht mehr in seiner Nähe blicken. Er hatte sich Respekt verschafft.

Obwohl er so großzügig zu den Menschen im Dorf gewesen war, versuchten nun viele ihn um sein gutes Geld zu bringen. Falsche Angebote und Versprechungen von Leuten von denen selbst Hans wusste, dass sie nie Wort halten würden, ärgerten ihn. Als er sich aber nun  nicht ausnehmen ließ, wie eine Weihnachtsgans, denn das erwartete so mancher vom dummen Hans hatte er plötzlich keine ach so guten Freund mehr. Er beschenkte seine Eltern reichlich, sattelte sein Pferd und ritt von dannen. Er wollte wieder zu dem Waldhaus, zum gastlichen Kalbskopfe, da gab es nicht Neid, nicht Habsucht, nicht Verspottung, nicht Raubsucht, aber zu essen und zu trinken vollauf. Und gute Unterhaltung, denn der Kalbskopf wusste auch zu sprechen und drückte sich noch dazu außerordentlich gewählt aus, woraus Hans schloss, dass derselbe eine sehr gute Erziehung erhalten haben müsse.

Hans ritt ins Blaue hinein und bald wusste er keinen Weg mehr, aber da half das Pfeifchen trefflich. Ein Pfiff, und es kam ein Hase oder ein Fuchs, oder ein Vogel, liefen und flogen vor dem Pferde her und als der Wald erreicht war, sprangen muntere Rehe voran. Und so wurde das Haus im Walde ohne Gefahr wieder gefunden. Der Kalbskopf rief Hans, als dieser zu ihm eintrat, ein herzliches „Willkommen!“ entgegen und drückte seine Freude aus, Hans wieder zu sehen.

„Du kommst zu rechter Zeit, mein lieber Freund!“ sprach der Kalbskopf. „Mit großer Sehnsucht erwartete ich dich, hättest du mich im Stich gelassen und dein Versprechen wieder zu kommen vergessen, meine Hoffnung wäre dann zunichte gewesen.“

Hans horchte auf bei diesen für ihn rätselhaften Worten, doch der Kalbskopf fuhr fort: „Achte auf das, was ich dir sage, denn von diesen Anordnungen hängt mein Leben ab und vielleicht auch dein Glück. Gehe jetzt einmal in die Küche, dort steht ein großer Hackblock und in der Speisekammer daneben liegt ein scharf geschliffenes Beil. Nimm dieses Beil und lege dasselbe auf den Hackblock – dann komme wieder zu mir herein.“

Hans befolgte dies Geheiß genau. ‚Wenn ich weiter nichts tun soll’, dachte er, ‚so ist es leicht.’ Bald hatte er das Gebot erfüllt und trat wieder in das Zimmer, welches der Kalbskopf bewohnte. „Nicht wahr, mein guter Freund“, rief dieser ihm entgegen, „das war ein sehr leichtes Stück Arbeit? aber nun kommt das schwerere. Ich hoffe sehr, dass du mir vertraust und mutig genug für diese Tat bist.

Jetzt nimm meine Wiege, in der ich ruhe und trage sie samt mir in die Küche und stelle sie neben den Hackblock.“

„Auch das, mit Vergnügen!“ sagte Hans und trug die Wiege in die Küche. Sie war zwar etwas schwerer, als Hans dem Anscheine nach geglaubt hatte, aber Hans hatte Kraft.
„Jetzt aber, bester Freund“, sprach wieder der Kalbskopf, „jetzt kommt das schwerste Stück – jetzt erschrick nicht. Jetzt decke mich auf.“

Hans räumte die seidenen Kissen hinweg – o weh – da endete der Hals des Kalbskopfes in einen armdicken Schlangenleib, der hing am Kopf, wie ein scheußliches Gewächs, und war mit blauen und grünen Schuppen bedeckt.

„Jetzt hebe mich aus der Wiege auf den Block und haue mir mit dem Beile diesen abscheulichen Leib ab, der an mir hängt.“ Hans schauderte und stammelte: „So soll ich dich töten, du guter, einziger Kalbskopf? Ich hab dich lieb gewonnen!“

„Mache nur frisch zu!“ versetzte der Kalbskopf. „Es wird dir gelingen, mir zu liebe.“
Hans gehorchte, nicht ohne Scheu und Zagen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, er hob das Beil, er zielte gut, er führte den Hieb – und siehe, es floss kein Tropfen Blut, der Schlangenleib schwand, der Kalbskopf verwandelte sich in ein holdes Mädchengesicht und aus der Wiege erhob sich eine Feengestalt von bezaubernder Anmut. Stieg heraus und fiel Hans um den Hals. „Du hast mich erlöst, du Guter, Lieber, Treuer! Nun nimm dir was du willst! All meine Schätze und mich dazu, wenn ich dir gefalle.“

„Mein liebstes Mädchen!“ nahm der erstaunte Hans das Wort. „Du bist mir schon als Kalbskopf äußerst appetitlich erschienen, so aber bist du mir noch tausendmal lieber. Ich nehme Dich!“ und sie sanken sich in die Arme.

Hans wurde sehr glücklich, er besuchte seine Eltern, verzieh seinen Brüdern und heiratete die schöne erlöste Jungfrau. Weder er noch seine Gemahlin sehnte sich in die sogenannte große weite Welt. Sie genossen ihr Leben in der reinen Natur des Waldes und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Ende